Pünktlich nach dem großen Empfehlungs-Newsletter für März bin ich mit dem Gesicht voran in eine Serie gestolpert, die mir emotional den Boden unter den Füßen weggerissen hat. (Immerhin: Dann habe ich nichts mehr, worauf ich stolpern kann!) Netflix hat mit Adolescence eine Crime-Drama-Miniserie veröffentlicht, die sich über vier Folgen hinweg unerbittlich Fettschicht um Fettschicht tiefer in mein Innerstes bohrt.
Also, natürlich nicht nur in mein Innerstes. Jeder liebt diese Serie. Das Empire Magazin, von dem ich … vielleicht schon mal vorher gehört habe, das ich hier aber primär anführe, weil mir das folgende Zitat sehr gut in den Kram passt, bezeichnet Adolescence zum Beispiel als “Triumph der kreativen und technischen Kunstform” und was soll ich sagen? Der Autor hat Recht.
Vier Folgen, jeweils in einem Take – also ohne Schnitte – gedreht, und einige der besten schauspielerischen Leistungen, die ich in langer Zeit gesehen habe. Auch ohne sein großes, gesellschaftskritisches Thema wäre Adolescence eine der besten Serien, die Netflix in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hat.
Aber es gibt eben ein Thema. Auch wenn sich das erst nach und nach zu erkennen gibt.
Worum geht es in Adolescence?
Im Kern geht es um eine Familie, deren Leben von 0 auf 100 implodiert, als Jamie, 13, aus seinem Bett gerissen und auf die Polizeiwache gebracht wird. Er ist der Hauptverdächtige in einem Mordfall und soll eine seiner Mitschülerinnen, Katie, mit mehreren Messerstichen umgebracht haben. Jamie weint, die Eltern weinen, das Motiv ist unklar und überhaupt: So beginnt doch jede zweite Krimiserie auf Netflix. Man glaubt zu wissen, was passiert ist, und am Schluss war alles eine große Verschwörung und nichts so, wie ursprünglich gedacht.
Ich will nicht zu viel verraten, denn je weniger man über die Serie weiß, umso besser ist sie. Aber: Adolenscence ist anders. Die Frage nach dem Wer und Wie interessiert die Serie nicht ansatzweise so sehr wie die für mich schon immer interessanteste der W-Fragen: Warum?
Nun, Jamie ist zwar erst 13 Jahre alt, aber er verbringt seine Freizeit vor allem vor dem Computer. In der Schule gibt es die, die ihn mobben, online warten ungleich größere Monster auf ihn: die reichweitenstarken Vertreter der Manosphere.
Was ist die Manosphere?
Es gibt im Internet verschiedene Blogs, YouTube-Kanäle, Foren, Podcasts, Twitter-Accounts … zusammengefasst Online-Präsenzen und -Persönlichkeiten, die sich als Antwort auf ziellose Männer positionieren. Sie versprechen Männern, die sich einsam fühlen, abgehängt von der Gesellschaft, überfordert von Emanzipationsbestreben und ihrer Rolle in einer progressiveren und nichtsdestrotrotz immer noch menschenfeindlichen Welt, eine Aussicht auf Linderung. Und sie bieten ein klares Feindbild: die Frau.
Frauen sind daran schuld, wenn Männer einsam sind. Frauen geben ihnen nicht die Liebe, die ihnen zusteht. Frauen wollen eigenständig sein, erwarten aber trotzdem, dass Männer alles bezahlen. Frauen haben absurd viel Sex und lassen sich erst zu Intimität mit normalen Männern herab, wenn sie schon “ausgeleiert” sind (not how Beckenbodenmuskulatur works, aber okay).
Frauen nehmen Männern ihre Kinder weg und treiben sie anschließend mit Unterhaltszahlungen in den Ruin. Frauen hassen Männer eigentlich, bis auf die attraktivsten 20 Prozent. Frauen sind eine 4/10 und erwarten trotzdem den perfekten Mann. Frauen sind nur etwas wert, wenn sie den Mann als überlegen anerkennen und seine Kinder austragen. Frauen verlieren ab ihrem 30. Lebensjahr jeden Wert und müssen dann erst recht nicht mehr behandelt werden wie Menschen.
“Hey, sind das nicht diese Incels?!”, werdet ihr euch jetzt vielleicht fragen, und ja, in Teilen. Aber nicht nur. Incels sind eine Gruppe, die die Frauenfeindlichkeit der Manosphere teilt, sich selbst aber als vermeintliche Untermenschen klassifiziert und das als einen der Hauptgründe dafür sieht, dass sie einsam sind und keinen Sex haben. (Hauptschuld haben aber trotzdem Frauen, oder “Femoids”, denn wer kein Sozialleben hat, hat mehr Zeit, sich herabwürdigende Begriffe auszudenken!)
Die Manosphere selbst ist eben nicht eine leicht zu klassifizierende Bewegung. Es gibt Incels und Pick-up-Artists. Proto-Männlichkeits-Cosplayer á la Andrew Tate, die Unsicherheiten anderer Männer zu Geld machen, indem sie ihnen Produkte oder Kurse andrehen. Die Leute, die den Film Fight Club so dramatisch falsch verstanden haben, dass sie ihre gesamte Persönlichkeit darauf aufbauen. Und auch Männer, die beschließen, sich vollkommen von Frauen loszusagen – und es leider trotzdem noch schaffen, ebenjenen Frauen mit misogyner Scheiße auf den Sack zu gehen.
Zurück zur besten Netflix-Serie des Jahres
Dass Pädophile über Social-Media auf Opfer-Fang gehen, dürfte mittlerweile jeder auf dem Schirm haben, aber dass es Gruppen gibt, die etwas ganz anderes in jungen Menschen kaputt machen und es als eine Art Therapie und Erweckung verkaufen? Außerhalb von vereinzelten Artikeln, fast ausnahmslos von feministischen Autor:innen, sprechen wir als Gesellschaft nicht über dieses Thema.
Hat das damit zu tun, dass die vordergründigen Opfer dieses maximal menschenfeindlichen Weltbildes Frauen sind?
Adolescence streift diesen Radikalisierungsraum immer wieder. Jamies Eltern verzweifeln an der Frage, ob sie etwas hätten tun können, um ihren Sohn vor diesen Online-Stimmen zu retten. Die Therapeutin, die Jamie in Folge 3 trifft, sieht nach der Sitzung aus, als wäre etwas in ihr zerbrochen. Es gibt keinen Bösewicht in dieser Serie, nur kaputte Menschen. Das Gift flimmert über Laptop und Handybildschirme. Verbreitet sich über WLAN-Funkfrequenzen durch die Luft. Und das ist platt, aber eben auch wahr.
Ich bin mir sicher, dass sehr viele, sehr junge Männer mit dieser Welt, in der wir leben, strugglen. Es wäre seltsam, wenn sie es nicht tun würden. ICH struggle mit dieser Welt und ich bin nicht mit frauenfeindlichen Twitch-Streamern aufgewachsen. Aber die Antwort darauf kann nicht sein, dass Frauen und weiblich gelesene Personen dieses Leid auf sich nehmen müssen. Stell ich hinten an, Incel. Everything sucks. Ich bin auch allein. Und jetzt?
Hass macht nicht glücklich, sondern einsam. Hass zerstört die wenigen Menschen, die dir noch nahestanden. Hass tötet. Hass tötet. Hass tötet. Und Hass macht den Leuten, die ihn jungen Menschen einflößen, Geld.
Gebt ihnen keine Klicks mehr.
(Und guckt Adolescence, damit Netflix merkt, dass es sich lohnt, weiterhin anspruchsvolle Filme und Serien zu produzieren. Dankeschön.)
Community-Aufgabe (das hier ist ein wiederkehrendes Newsletter-Element)
Habt ihr Adolescence gesehen? Was fandet ihr gut? Was nicht so? Lasst es uns in den Kommentaren diskutieren.
Ich habe die Serie auch schon gesehen und kann mich Dir zu 100% anschließen. Kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine Serie (od. einen Film) gesehen habe, die mich so mitgenommen hat.
Hoffe sehr, dass sie ihren Weg in unseren kulturellen Kanon findet, am besten neben 'Die Welle'.
Ich hab die Serie ebenfalls schon geguckt und schließe mich dir ebenfalls an. Es SOLL erschüttern, es SOLL mitnehmen. Es SOLL zum Nachdenken und Mitwirken anstrengen. Stephen Graham meinte in einem Artikel auch, dass sie "bewusst keine Alkoholsüchtige Mutter, keinen missbräuchlichen Vater als Elternrolle und keine perfekte Schwester als Familie" schreiben wollten. Gerade damit dieses "Finger zeigen" gar nicht erst stattfindet. Wir sind alle irgendwie "Schuld" und vor allem verantwortlich es besser zu machen. Und ich hoffe so sehr, dass die Serie damit etwas angestoßen hat. Meiner Meinung nach braucht man auch keine weiteren Folgen oder eine zweite Staffel. Es ist keine Unterhaltung für nen entspannten Filmabend, wo man danach einfach umschaltet auf was "lustigeres" ohne an die Serie zu denken.