Werbung mit der Emotionsbazooka
Wann habt ihr zuletzt wegen funktionierender Autobremsscheiben geweint?
Ist es Realitätsflucht? Ist es ein Weg, Zeit mit anderen Menschen zu verbringen, ohne etwas sagen zu müssen? Oder will ich mir einfach nur selbst beweisen, dass es sich finanziell absolut gelohnt hat, 250 Euro in ein All-You-Can-Watch-Kinoabo zu investieren? Vielleicht alles davon, vielleicht nichts, vielleicht ist es auch scheißegal. In jedem Fall war ich vergangene Woche VIER MAL (A Real Pain, Kneecap, Hundreds of Beavers, Der Graf von Monte Christo) im Kino.
Alle Filme haben mir gefallen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art. Let me know, wenn ihr zu einem davon ein bisschen mehr lesen wollt. Am meisten denke ich seither aber über eine Werbung nach, die mich zu gleichen Teilen genervt und grenzenlos fasziniert zurückgelassen hat.
Den Genervtheitsaspekt versteht ihr, auch ohne zu wissen, um welchen Clip es konkret geht. Ich finde: In Kinos, vor Kinofilmen sollten ausschließlich Trailer zu anderen Filmen gezeigt werden. Außerdem fordere ich eine längere Haftstrafe für die Agentur, die sich diesen neuesten “Dit is Berlin, wa”-Bierwerbespot ausgedacht hat. Und wenn wir schon dabei sind, wünsche ich mir auch zurück, dass kurz vor Filmbeginn eine Mitarbeiterin des Kinos in den Saal kommt und passiv-aggressiv fragt, ob jemand noch Eis möchte. Aber darum soll es heute nicht gehen.
Zwischen generell nerviger Werbung startete schließlich dieser Spot:
Indem ihr das YouTube-Video aufruft, wisst ihr schon mehr als ich und meine beiden Freundinnen, die neben mir saßen. Denn uns war bis zum Schluss dieses FAST VIERMINÜTIGEN Spots nicht klar, was hier eigentlich verkauft wird.
Wir beginnen mit einer sanft ausgeleuchteten Szene zwischen zwei jungen, potenziell glücklichen Menschen. Sie ist schwanger, er sieht aus wie eine Edeka-Eigenmarken-Version von Paul Mescal und wirkt ein bisschen, als würde er sich eigentlich nicht über die Schwangeschaft seiner Partnerin freuen.
Gegen Sekunde 45 sehen wir zum ersten Mal ein Auto. Ah, bestärken wir uns im Kino gegenseitig, es geht also um ein Auto. Wahrscheinlich besonders viel Platz für junge Familien, oder so. Man kennt das. Aber das ist nicht, was passiert.
EPM (Edeka-Paul-Mescal) bekommt am Telefon mit seiner Mutter eine leichte Anxiety-Attacke, weil: Kinder kosten Geld und sind irgendwie auch eine Verantwortung, der er sich nicht gewachsen fühlt. Parallel sehen wir schummrig weichgezeichnete Aufnahmen einer Geburt, eines sonnendurchfluteten Hauses und eines Kindes, das mehrere Stufen des Erwachsenwerdens durchläuft. Geht es also doch nicht um ein Auto, sondern um eine Versicherung? So von wegen “Wir stärken ihnen und ihrer jungen Familie den Rücken, finanziell nicht abgesicherter Paul Mescal”?
Hey Männer, seid ihr OK?
Kürzlich habe ich einen Artikel für den SPIEGEL geschrieben. Er trägt den Titel “Wie Netflix den perfekten Mann erfand” und ist in seiner Klickigkeit sehr angemessen, denn es geht um Adam Brodys heißen Rabbi in der Serie Nobody Wants This. Der ist nicht nur selbstironisch, irgendwie dorky und natürlich attraktiv. Er ist auf eine Art und Weise empathisc…
Minute 1:21. Das Auto ist zurück, wird aber sofort von verwackelten Hochzeitsaufnahmen abgelöst. Im Off wirkt es zunehmend so, als würde sich EPM am Telefon mit seiner Mutter eine Zukunft für seine Tochter ausmalen, die niemals eintreten wird. Stirbt hier gleich ein Kind? Gab es Komplikationen in der Schwangerschaft? Ist das hier eigentlich ein Spot, mit dem auf eine seltene Erkrankung oder die Tatsache, dass nicht genug Fördergelder in Frauengesundheit investiert werden, aufmerksam gemacht werden soll?
Während das Kopfkino von EPM wieder zur Kindheit seines (imaginären?) Kindes zurückspringt und die Inszenierung zunehmend an die Beige-Phase von Til Schweigers Oeuvre erinnert, wird es im Kinosaal langsam unruhig. Noch weiß niemand, dass wir gerade einmal bei der Hälfte des Werbespots angekommen sind.
Ich möchte kein Arschloch sein und finde es tatsächlich immer schön, wenn Werbung versucht, eine emotionale Geschichte zu erzählen. Vielleicht erinnere ich mich da gerade falsch, aber: Gab es nicht mal so einen Edeka-Spot, der extrem traurig war? Ach ja, der hier:
Dieses Video bringt mich in 1 Minute und 46 Sekunden zum Weinen. Das sind zwei Minuten weniger, als der Spot dauert, der – und hier springen wir zurück in die aktuelle Kinosituation – immer noch weiterläuft.
Eine neue Frau taucht auf, die schnell Auto fährt. Also doch eine Autowerbung. Aber die Familienfanfiction geht weiter. Es wird sich gestritten, geweint, das mittlerweile (oder erneut, denn geheiratet hat sie ja auch? Oder waren das die Eltern?) volljährige Kind zieht aus, geht feiern, bekommt selbst ein Kind. Alles verschwimmt und das nicht nur, weil so wahnsinnig viele Lens Flares über diese Storyline geballert werden, dass ich mich frage, ob wir hier erste Bilder aus einem neuen Star-Trek-Film sehen.
Bei Minute 2:48 passiert dann endlich etwas. Eine blonde Frau guckt auf ihr Telefon statt auf die Straße, sieht beinahe zu spät. dass EPMs gerade erst schwangere Lebensabschnittspartnerin – nicht nach links und rechts guckend! – den Zebrastreifen überquert und muss hart abbremsen. Schwarzbild. Dann Schrift:
“Sometimes the moments that never happen
matter the most”
Es folgen noch heftiges Atmen, bedeutungsschwangere Blicke, EPM trinkt Wasser im Krankenhaus und am Schluss werden wir mit der Info entlassen, dass dieses Auto der sicherste Volvo aller Zeiten ist. Das Kinopublikum quittierte diese Info mit einer Mischung aus ungläubigem Lachen, wohl ob der Dramatik des Ganzen, sowie absoluter Erleichterung darüber, dass das Telefonat zwischen Mutter und Sohn endlich ein Ende gefunden hat.
Ich persönlich finde es schade, dass das Ganze nicht noch länger ging. Ich meine, wenn wir schon bei fast vier Minuten sind, warum nicht richtig durchdrehen und den Spot zu einem Zehnminüter aufblasen. Es gibt bestimmt noch mehr Situationen, durch die man deutlich machen kann, dass dieser spezielle Volvo das einzige Auto auf der ganzen Welt ist, das bremst, wenn man auf die Bremse steigt.
Vielleicht lässt sich auch noch ein kleiner Streit zwischen Schwiegermutter und EPMs Partnerin einflechten, die Tochter wird über TikTok radikalisiert und zündet in der Nachbarschaft SUVs an – nur den Volvo nicht … So viele Möglichkeiten, so viele emotionale Bilder, die da liegen gelassen wurden. In Autowerbung ging es schon immer mehr um Vibes als irgendetwas anderes. Ich begrüße das und freue mich auf eine Werbezukunft, wo Produkt und Verkaufe absolut gar nichts mehr miteinander zu tun haben.
In den YouTube-Kommentaren wird der Spot zwar gefeiert. Eine Freundin berichtet mir allerdings, dass sie ihn gleich zweimal an einem Tag in zwei verschiedenen Kinovorführungen sehen musste und die Leute gelacht haben.
Falls ihr persönlich bei “Mal sehen, was aus unserem Kind wird”-Erzählungen emotional werdet, habe ich in jedem Fall eine bessere Alternative. Niemand macht das schöner und herzzerreißender als einer der besten Filme, de ich jemals gesehen habe und empfehlen werde, bis ich sterbe: Mommy von Xavier Dolan.
Community-Aufgabe (das hier ist ein wiederkehrendes Newsletter-Element)
Habt ihr Lieblings- oder absolute Hasswerbungen? Teilt sie in den Kommentaren. Gemeinsam hassen (und weinen!) ist besser, als es alleine zu tun und genau das ist einer der Gründe, warum ich so wahnsinnig gerne ins Kino gehe.
🫀 Lisa
Ein ganzes buch mit Essays über popkulturelle Beobachtungen von dir wäre so toll zum lesen, so witzig einfach!
Hasswerbung: Alles von Carglass.
Lieblingswerbung: dieser eine absurde urlat sanifair spot wo das Kind wie auf Drogen durch die Raststättentoilette tänzelt.
Hassliebe: Saitenbacher. Mega nervig. Aber seit ich gehört habe, dass der Chef das in Eigenregie im eigenen Keller eingesprochen hat find ichs irgendwie kultig 😄